Das Internet und später das Web 2.0 sind als emanzipatorische Projekte gestartet. Dem Bürger fielen immer mehr Möglichkeiten zu, sich unabhängig zu informieren und aus seiner eigenen Unmündigkeit zu entfliehen. Pegida, der NSA-Skandal oder die Ukraine-Krise sind jedoch einige Beispiele der letzten Zeit, wo Expertenwissen scheinbar immer weniger zählt und sich ein Teil der Gesellschaft dem Diskurs komplett entzieht. Das Fatale ist, die eigene Unmündigkeit wird als die einzige Wahrheit deklariert und alle anderen „Fakten“ entstammen dem „System“ oder der „Lügenpresse“, weshalb sie rigorose Ablehnung erfahren. Wie kann dieses Phänomen gefasst werden?
An zwei Beispielen möchte das Phänomen näher beschreiben:
Manfred Mack bekam kürzlich für seine 40 jährigen Verdienste in den Deutsch-Polnischen Beziehungen das Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen verliehen. Seine Expertise über Polen und Osteuropa ist unbestritten. Politisch würde ich ihn links der Mitte verorten. Es war sehr interessant, wie er sich im Verlauf der Ukraine-Krise mit Linken im Allgemeinen und Konstantin Wecker sowie seine Fans im Speziellen beschäftigte. Er versuchte aufzuklären und in einen Dialog mit den „Putinverstehern“ zu treten. Seine Mühen waren größtenteils vergeblich. Ich merkte, wie dies Manfred Mack nach und nach frustrierte. Sein Wissen war kaum etwas Wert, da es oft schlicht nicht anerkannt wurde.
Der letzte Höhepunkt in der Ukraine-Krise war ein Appell zum Dialog mit Russland von 60 Persönlichkeiten aus Politik, Kultur, Medien und Wirtschaft, die interessanterweise entweder Verbindungen zu Russland aufweisen oder keine Osteuropaexpertise vorweisen können. Der Konter des Aufrufs erfolgte von über 100 deutschsprachigen Osteuropaexperten, der medial leider jedoch nicht so durchdrang, wie es dem Aufruf gelang. Die Osteuropaexperten sind primär Wissenschaftler.
Das zweite Beispiel ist Mats Simmermacher, der theoretische Chemie studiert und ein Experte der Klimaforschung ist. In den letzten Wochen diskutierte er in einer FDP-Mitglieder-Facebookgruppe mit einigen Gruppenteilnehmern, inwieweit der Klimawandel vom Menschen verursacht wurde. Er beantwortete für Facebook-Maßstäbe viele Fragen und Argumente sehr ausführlich, verwies auf einige neuen Studien und entkräftete die Hypothesen der Klimawandelskeptiker größtenteils. Das Wissen des Experten ficht die Skeptiker jedoch nicht an. Sie beharrten auf den eigenen Standpunkt und beleidigten ab und zu Mats Simmermacher. Falsche Behauptungen wurden einfach ein paar Tage später erneut aufgestellt.
Ablehnung des Expertenwissens im Web 2.0
Die Resistenz gegenüber Expertenwissen ist auch bei Pegida und dem NSA-Skandal zu beobachten. Der Diskurs wird offensiv abgelehnt, wodurch wir hinter der Aufklärung zurück fallen. Diese Beobachtung konterkariert eines der größten Vorteile von Web 2.0. Experten aus einem Gebiet dienen auf Twitter, Facebook oder LinkedIn als Filter in ihrem Fachbereich. Wenn ich beispielsweise Stephan Grabmeier und Dion Hinchcliffe auf Twitter folge, weiß ich, dass ich aus dem Bereich Enterprise 2.0 aktuelle Diskurse mitbekomme. Pegida, „NSA-Verharmloser“, „Putin-Versteher“ oder Klimaskeptiker sind für Experten jedoch unempfänglich. Sie bilden stattdessen eine eigene Blase, die sich von allen entgegengesetzten Meinungen abschotten. Sie bestärken in ihrer eigenen Meinung, auch wenn sie noch so absurd ist.
Zusätzlich ist zu beobachten, dass sich Experten aus Diskursen zurückziehen, weil sie merken, wie sinnlos ihre Bemühungen sind. Sie investieren Zeit im Web 2.0, die oft keine Wirkung erzielt.
Die Erosion des Expertenwissens wird weiter voranschreiten
Diese Entwicklung bereitet mir Sorgen. Es ist davon auszugehen, dass die Blasen der Unwissenheit zunehmen. Die Mitglieder einer Blase bestärken sich gegenseitig in ihren kruden Weltbildern und sind oft sehr laut, wodurch der Eindruck entstehen könnte, dass sie eine größere gesellschaftliche Gruppe vertreten. Politik wird sich deshalb wahrscheinlich immer mehr nach den lauten Minderheiten ausrichten. Eine offene Frage ist für mich, wie wir als Gesellschaft auf die Diskursverweigerer reagieren sollten. Ignorieren? Immer wieder den Diskurs anbieten? Mehr Wert auf die Ausbildung der Medienkompetenz legen? Was meint Ihr?
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