Letzten Sonntag warf ich der deutschen Presselandschaft vor, eine zu deutsche Sichtweise auf die Proteste in Istanbul zu haben. Sehr viele Leser kommentierten den Beitrag. Die Einschätzungen reichten von völliger Zustimmung bis völliger Fehleinschätzung. Mittlerweile ist eine Woche seit dem Beitrag vergangen und es wird langsam klarer, in welche Richtung die Entwicklung geht, auf die ich nun genauer eingehe.
Durch meinen Fokus auf die Hauptkonfliktlinie zwischen religiös-konservativen AKP-Anhängern und den Kemalisten wurde ich primär mit folgenden Vorwurf konfrontiert, der aus einer kurzfristigen Perspektive richtig ist:
“Die Demonstranten setzen sich konfessionsübergreifend zusammen, unabhängig von Geschlecht und politischer Ausrichtung. […] Armenier, Kurden, Türken, Lazen, Cerkezen, Christen, Atheisten, Kommunisten, Rechte, Linke, unpolitische Menschen usw. stehen auf einmal Schulter an Schulter zusammen und haben alle Differenzen beiseite gelegt.” Kommentar von Akropolis
Demnach sind die Protestierenden sehr heterogen und zusätzlich ist zu lesen, dass die Proteste durch die Jugend getragen werden. 60% der Teilnehmer sind jünger als 30 Jahre. 54% waren noch nie auf einer Demonstration. Die Protestler haben laut einer Studie der Istanbuler Bilgi Universität folgende Ziele:
- sie sind gegen den autoritären Führungsstil von Erdogan
- sie sind gegen die unverhältnismäßigen Gewalt der Polizisten
- die Verletzung demokratischer Rechte muss aufhören
- sie treten für Freiheit ein.
Diese Ziele können als das Eintreten für Bürger– und Freiheitsrechte umschrieben werden und verdienen es, unterstützt zu werden. Sie einen die Demonstranten. Erdogans Verhalten (wie ein Elefant im Porzellanladen) befeuert tatkräftig die Unterstützung der Protestierenden. Die Frage ist jedoch, wie geht es weiter? Werfen wir einen genaueren — nicht emotionalen — Blick auf die Geschehnisse:
Die Proteste sind eine soziale Bewegung, die aufgrund des Verhaltens von Erdogan und von Leerstellen in der türkischen Politik entstand. Die gerade genannten Ziele der Proteste zeigen diese Leerstellen eindrucksvoll. Die zwei Machtblöcke der Türkei (AKP verus CHP/Militär) können jeweils aus unterschiedlichen Gründen diese Leerstellen bisher nicht füllen, weshalb die Wut so groß war, dass die soziale Bewegung entstand. Folgende drei Szenarien halte ich für wahrscheinlich, wobei die erste am wahrscheinlichsten und die letzte am unwahrscheinlichsten ist:
1. Die Ziele der sozialen Bewegung werden teilweise von einem der Machtblöcke okkupiert/übernommen
Beide Machtzentren sehen, dass die soziale Bewegung für einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung spricht. Es ist nicht die Mehrheit aber die Jugend. Mit der Zeit wird diese Gruppe größer werden und sie werden auch in immer mächtigere gesellschaftlichen Positionen aufsteigen. Deshalb werden beide Seiten diese Gruppe umgarnen, was zu einer Spaltung der breiten Protestbewegung führen wird. Gerade weil sie so heterogen sind, ist diese Entwicklung wahrscheinlich. Die Frage ist jedoch, wie wandlungsfähig sind die AKP und die CHP? Wer kann stärker auf die Jugend zugehen?
2. Erdogan sitzt die Proteste aus
Auch wenn es die Demonstranten nicht gerne hören, es ist durchaus möglich, dass Erdogan die Proteste einfach aussitzt. Es gibt zwar innerparteilichen Widerstand, der aber scheinbar bisher nicht groß genug ist. Wir dürfen nicht vergessen, er hat eine demokratische Wahl klar gewonnen und er erhält noch immer eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Wenn die AKP oder die CHP mittelfristig nicht die Jugend integrieren kann (Variante 1), dann wird es jedoch in vielleicht 10 Jahren noch heftiger Krachen.
3. Es entsteht ein neues Machtzentrum
Die unwahrscheinlichste Variante ist, dass ein neues Machtzentrum (Parteien, Institutionen usw.) entsteht, die genau die Ziele vertritt, welche die Protestierenden eint. Unwahrscheinlich ist diese Variante weil erstens die soziale Protestbewegung in sich zu heterogen ist und zweitens diese Variante sehr viel Zeit benötigt. Die Grüne Partei in Deutschland ist z.B. erst 1980 entstanden, obwohl die soziale Bewegung in der zweiten Hälfte der 60er Jahre groß wurde. Drittens bleiben die beiden anderen Machtblöcke nicht untätig, weshalb es eher zu Variante 1 kommt.
Es darf nie vergessen werden, dass die zwei Machtzentren AKP verus CHP/Militär schon seit dem Ende des ersten Weltkrieges um die Vorherrschaft in der Türkei ringen. Soziale Bewegungen gab es in dieser Zeit mehrfach. Zwischen 1968–71 und 1973 — 1980 herrschten z.B. bürgerkriegsähnliche Zustände in der Türkei. Auch damals wurden die Grundlagen des Kemalismus UND die kapitalistische Wirtschaftsordnung in Frage gestellt und die alten Machtzentren hielten sich dennoch.
Diese Analyse ist natürlich eine unbefriedigende Aussagen für junge Menschen mit Idealen, die für eine bessere Welt kämpfen. Ich würde es der Türkei wünschen, dass die Ziele der Demonstranten zumindest teilweise durchgesetzt werden. Dennoch bin ich skeptisch, ob es einen so großen Wandel geben wird, den sich viele auf den Straßen erhoffen.
Juni 10, 2013 um 14:52 Uhr
Die Kommentare zu Deiner polarisierenden Darstellung, die wiederum eigentlich eine polarisierende Mediendarstellung kritisieren wollte, werden leider nur etwas stiefmütterlich in die Bilanz übernommen. Da geht es entlang der etwablierten Machtwaben, aber die Oppositionsbewegungen bleiben reduziert auf ihre Heterogenität. Das ist ein bißchen altmodisch. Da wird (im letzten Artikel) dafür eingetreten, nicht mit deutscher Brille draufzuschauen, dann zieht man hier in der Prognose einen Vergleich mit deutscher Parteiengeschichte (68er — Grüne — allein das schon ne recht grobe Sichtlinie) .. Das sind ja keine in-vitro-Experimente. Der Eindruck wird so ausserdem vermittelt, Gesellschaftspolitik vollziehe sich hauptsächlich im Parlament. In einer angereicherten Darstellung der Protestbewegung sollte unbedingt die Syrien-Politik, wie auch generell die aussen und geopolitischen Linien (und zwar nicht einfach Pro / Contra Westen) einfließen; TRE ist liegt einiges, im derzeitigen Ringen um die geopolitische Ordnung Asia Minors, der arabischen Halbinsel sich dort und bei den afrikanischen Mittelmeerländern als starker Mann vom Bosporus zu präsentieren. Die neoliberale Weltpolitik bindet dabei die Region in ein tiefliegenderes Geschehen ein; auch Gas und Energie spielen eine Rolle; das wird dann unteressant wenn es um die Kurdenfrage geht– Es Kontinuität liegt dagegen eben genau in einer (weder pro, noch contrawestlichen) neoliberalen Vorstellungswelt, in der die ökonomische Ordnung stetig Bündnisse zu ihren Gunsten mit politischen Movens eingeht.. Das ganze trägt selbstverstäündlich nicht gerade zum Korruptionsabbau bei. Die wiederum ist auch ein kaum zu unterschätzender Faktor und Katalysator der Proteste — die Kritik u.a. daran eint die noch-so heterogene Opposition, ebenso wie eben kurzfristig die Eskalationsstrategie. Eine Prognose wie das alles weitergeht traue ich mir nicht zu, zu viele Unwägbarkeiten– Dass jedoch wie in Variante 1) die Protestbewegung unter AKP und CHP verteilt wird, sich also nichts verändert ausser Quoten und Zugehörigkeiten, halte ich nicht wirklich für das wahrscheinlichste.