Geerts Lovniks Buch „Das halbwegs Soziale – eine Kritik der Vernetzungkultur“ lässt mich etwas ratlos zurück. Lovniks zentraler Anspruch:
- „Statt den Fokus auf die schnell verändernden sozialen Wirklichkeiten zu legen, wie Manuel Castells vorschlägt, habe ich mir zum Ziel gesetzt, genauer die Funktion zu analysieren, die Konzepte wie frei, offen, Gemeinschaft, Blog, Teilen, Veränderung, Freunde, Link und Like bei der Herausbildung von Netzwerkgesellschaft erfüllen (S. 94f).“
kann ich zu 100% zustimmen. Nach der Lektüre des ganzen Buches muss ich jedoch feststellen, dass der sogenannte Theoretiker diesen Anspruch leider nicht erfüllt. Ich würde ihn nicht als Theoretiker bezeichnen, sondern als jemanden, der viele spannende Fragen stellt. Neben herausragenden Beobachtungen und Fragen finden sich Verschwörungstheorien und elementare Fehler. Diese Einschätzung möchte ich zunächst mit Beispielen unterfüttern:
Lovnik schreibt auf S. 34:
- „Wenn man die internetspezifische Theorieentwicklung betrachtet, sieht man, dass der Forschungsgegenstand von virtuellen Gemeinschaften (Rheingold), einem Raum von Flüssen (Castells), Smart Mobs (wieder Rheingold), schwachen Bindungen und Umschlagpunkten (Gladwell), Crowdsourcing, Partizipationskultur (Jenkins) und Weisheit der Mengen (Surowiecki) zu allgemeinen Labels wie Web 2.0 (O’Reilly) und Soziale Medien erstarrte. Oft beschreiben diese Theorien einleuchtend, wie Netzwerke sich herausbilden, wachsen, und welche Form und Größe sie annehmen, aber sie schweigen dazu, wie sie in die Gesellschaft eingebettet werden und welche Konflikte daraus entstehen.“
Eine sehr treffende Beschreibung der Internetforschung, die auch meine Beobachtung bestätigt. Eine weitere sehr treffende Beobachtung ist:
- „Die Cyber-Propheten lagen falsch: Es gibt keinen Beweis, dass die Welt virtueller wird. Eher wird das Virtuelle realer; es will in unsere realen Leben und sozialen Beziehungen eindringen und sie offenlegen (S. 22).“
Eine wichtige Frage, die er in den Raum wirft, ist die Frage nach dem Dualismus zwischen Entgrenzung und Begrenzung:
- „Doch während wir die Technologie in Besitz nehmen und sie in unsere Leben einbauen, schaffen wir gleichzeitig Räume, um uns zurückzuziehen und einen Moment für uns selbst zu sein. Wie finden wir die Balance? Es ist unmöglich, im selben Moment zu beschleunigen und zu verlangsamen, aber genau so führen die Leute ihr Leben (S.23).“
Seine Beobachtungen ordnet Lovnik in ein linkes bis linkradikales Weltbild ein, was die große Schwäche des Buches ist. Ein Beispiel dafür ist:
- „Diese Rückbildung oder Regression ist die prägende Erfahrung der neoliberalen Gesellschaft und erzeugt das Gefühl, dass jeder schon von vorneherein ein Versager ist. Dahin müssen wir blicken, wenn wir uns fragen, was angesichts der Informationsüberflutung getan werden muss (S. 44).“
Die Verbindung von neoliberaler Gesellschaft und Informationsüberflutung ist an den Haaren herbei gezogen und wird an keiner Stelle des Buches schlüssig erklärt. Informationsüberflutung ist tatsächlich ein wichtiger Punkt, weshalb die Informationsfilterung in den Mittelpunkt gerückt werden sollte. Dies kann man theoretisch z.B. wunderbar mit Luhmanns Kommunikationsbegriff rahmen. Lovnik verzichtet darauf. Damit alles in sein linkes Bild passt, werden Schlussfolgerungen gezogen, die schlicht falsch sind. Ein Beispiel ist die Unterstellung der singulären Identität im Netz:
- „Die Folge ist, dass es heute kaum mehr Möglichkeiten gibt, sich multipler Weise online zu präsentieren (S. 56).“
Nur weil das „böse“ Facebook dies will, heißt dies noch lange nicht, dass das Individuum es mitmachen muss. In zwei früheren Blogbeiträgen beschrieb ich das Phänomen der multiplen Accounts und des Identitätsmanagements im Internet. Die Beiträge zeigen, es ist nicht so schlimm, wie es in Lovniks Buch gemalt wird.
Ein weiteres Problem ist, dass die Begriffe bei Lovnik nicht sauber verwendet werden. So differenziert er zwischen Web 1.0, Web 2.0 und Web 3.0 anhand von Zeit. Web 1.0 gab es demnach in der 90ern, Web 2.0 nach dem Platzen der New Economy Phase 2001 bis heute und demnächst gäbe es Web 3.0. Das hinter den Begriffen bestimmte Prämissen und damit verbunden auch Funktionen stehen, ignoriert Lovnik komplett. Die einzelnen Webs existieren nebeneinander und haben jeweils auch ihre Daseinsberechtigung. Lovnik sieht dies wahrscheinlich nicht, da er dann nicht so einfach die Internetriesen und den bösen Kapitalismus angreifen könnte. Google verfolge z.B. einen Masterplan, der von den Meisten nicht gesehen werde (Vgl. S. 192). Auf die Abschnitte über die Tipps für linksradikale Gruppen gehe ich an dieser Stelle nicht weiter ein.
Als Fazit lässt sich sagen, das Buch zerfällt in zwei Teile. Positiv sind der Anspruch, viele interessante Beobachtungen und Fragen, über die es sich lohnt nachzudenken. Eine Einbettung dieser positiven Aspekte in Theorien oder auch in die Praxis unterbleibt dagegen, obwohl dies der Anspruch des Buches ist. Stattdessen wird alles politisch eingeordnet, was eventuell auf die Hausbesetzervergangenheit des Autors zurückzuführen ist. Dies ist meiner Meinung nach der große Nachteil des Buches.
Geert Lovink (PhD), niederländisch-australischer Medientheoretiker, Internetaktivist und Netzkritiker, ist Leiter des Institute of Network Cultures an der Hochschule von Amsterdam, Associate Professor für Media Studies an der Universität Amsterdam und Professor für Medientheorie an der European Graduate School
Broschiert: 240 Seiten
Verlag: Transcript; Auflage: 1., Aufl. (20. September 2012)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3837619575
ISBN-13: 978–3837619577
Größe und/oder Gewicht: 22,4 x 14,8 x 2 cm