Wie können die Veränderungen, die durch das Internet verursacht werden und in ihrem Ausmaß nur schwer erfassbar sind, theoretisch gerahmt werden? Dirk Bäcker bietet in seinem Buch Studien zur nächsten Gesellschaft eine Analyse an, die die Tragweite der Veränderungen verdeutlicht. Er unterschiedet, basierend auf den Erkenntnissen von Niklas Luhmann (1997, S. 190ff) vier Gesellschaftsformen: Stammesgesellschaft, Antike, Moderne und Computergesellschaft. Die Kategorisierung nimmt er anhand des zentralen Verbreitungsmediums von Kommunikation vor (siehe Abbildung).
In der Stammesgesellschaft war das zentrale Verbreitungsmedium die Sprache, weshalb sich Kommunikation auf Interaktion unter Anwesenden beschränkte und somit nur ein kleiner Empfängerkreis adressiert werden konnte. Seit der Entwicklung der Schrift werden Geschichten, Wissen oder Erfahrungen durch schriftliche Dokumente weiter gegeben. Durch die Verbreitung der Lesefähigkeit konnte nicht mehr nachvollzogen werden, wer einen Text gelesen hat und sich an den Inhalt erinnern kann (ebd. S. 202f). Kommunikation löste sich demnach von der ausschließlichen Interaktion zwischen Anwesenden (Schneider 2004, S. 146). Mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg wurden Texte in hoher Auflage vervielfältigt und verteilt. So lasen die Bürger nicht nur einmalig Luthers Thesen, sondern wurden beständig z.B. durch Flugblätter oder Plakate an sie erinnert. Die Verbreitung des Internets löst die Schrift oder den Film vom Papier bzw. Filmrolle ab und überträgt diese in einen digitalen Raum, in dem Individuen extrem stark vernetzt sind, wodurch die Vervielfältigung und Übertragung von Kommunikation abermals extrem ansteigt.
Bäckers zentrale These ist, dass die Verbreitungsmedien „einen dominierenden Einfluss auf die Struktur und Kultur einer Gesellschaft ausüben“ (Bäcker 2007, S. 2). Jeder Wandel zeichne sich dadurch aus, dass es ein Überschuss an Sinn durch das neue Verbreitungsmedium entsteht, der durch „eine Kultur der selektiven Handlung dieses Überschusses (ebd. S.2)“ beantwortet wird. In Luhmanns Worten: „Die Gesellschaft ist kein Nullsummenspiel. Sie entwickelt Komplexität mit Hilfe von dafür geeigneten Komplexitätsreduktionen“ (Luhmann 1997, S. 406). Mit jedem Verbreitungsmedium stiegen die Komplexität und damit die Produktion von Sinn. Gleichzeitig bildete die Gesellschaft Kulturformen aus, um mit der erhöhten Komplexität umgehen zu können. E-Mails ermöglichen es zum Beispiel dem Menschen sehr viele ortsunabhängige und spezifische Informationen zu bekommen, die beständig im E-Mailkonto eintreffen. Ab einer gewissen Anzahl von E-Mails pro Tag, fühlt sich das Individuum von der „Informationsflut“ erschlagen, weshalb es mittlerweile viele Möglichkeiten, wie das Anlegen von Ordern, dem Einstellen von Filtern, das farbliche Markieren von E-Mails, der Differenzierung von gelesenen und ungelesenen E-Mails indem die ungelesenen E-Mails fett geschrieben werden oder eine ausdifferenzierte Suchfunktion, gibt, die helfen sollen, die hohe Anzahl von E-Mails zu bewältigen. Letztlich sind diese zusätzlichen Möglichkeiten, Einstellungen oder Add-ons, die die Komplexität, welche erst durch das Internet geschaffen wird, reduziert. Ohne den „selektiven Umgang mit dem durch die neuen Medien produzierten Überschusssinn“ (vgl.: Bäcker 2007, S. 10), könne eine Gesellschaft nicht überleben.
Aus diesen theoretischen Überlegungen lässt sich schlussfolgern, dass wir momentan in eine neue Gesellschaftsform übergehen. Durch das Internet erhalten wir immer mehr Informationen, aber auch Möglichkeiten der Kommunikation. Damit dies den Menschen nicht überfordert, etablieren sich einerseits neue Techniken und anderseits neue Arten des Umgangs mit der Technik. Dies transformiert letztlich die Struktur und Kultur unserer Gesellschaft. Wohin die Reise geht, ist dabei nicht absehbar. Sicher ist nur, es wird eine lange Reise, die uns und unsere Gewohnheiten ändert.
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Juli 10, 2013 um 16:37 Uhr
Die Schlussfolgerung einer neuen Gesellschaftsform lässt sich nicht zwingend aus den genannten theoretischen Prämissen ziehen. Die neuen Medien produzieren nämlich keinen Überschuss-Sinn, sondern zunächst erst mal nur ein Überangebot an Sinnofferten. Das Problem, dass man mehr eMails bekommt als man lesen kann, stellt sich in jeweils anderer Form auch schon bei früheren Medien: mehr Bücher als man lesen kann, mehr Theateraufführungen als man sich anschauen kann, mehr Schallplatten als man anhören kann, mehr Filme als man sich anschauen kann, mehr Fernsehsendungen als man anschauen kann etc. Man kann nicht alles auf einmal lesen oder anschauen und man kann nicht mal alles nacheinander lesen oder anschauen. Man ist immer gezwungen eine Auswahl zu treffen, weil nicht alle Möglichkeiten realisiert werden können — weder gleichzeitig noch nacheinander.
Es stellt sich jeweils nur das Grundproblem sozialer oder psychischer Systeme, nämlich der Reduktion der durch das Überangebot erzeugten Komplexität. Das ist nicht neu, sondern das älteste Problem überhaupt. Mit jedem neuen Verbreitungsmedium stellt sich also nur ein altes Problem jeweils in neuer Form. Daraus lässt sich noch nicht auf eine neue Gesellschaftsform schließen. Funktionale Differenzierung ist bereits die Lösung für das durch die Verbreitungsmedien erzeugte Problem des Überangebots von Sinnofferten. Das durch die Verbreitungsmedien eröffnete Überangebot an Sinnofferten lässt sich bloß nicht mehr durch Kommunikation unter Abwesenden reduzieren. Dafür gibt es die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Die funktionieren nicht mehr bei der Kommunikation unter Abwesenden.